Soviel über Gewissheit: Kunst und Spiel


Relativitätstheorie nach Einstein, Quantenphysik und Butterfly-Effekt
– spätestens nach Mitte des vergangenen Jahrhunderts scheint Nichts mehr von voller Gewissheit erfüllt. Vielmehr sind die aller gewissesten Fakten im Wandel und die Ordnungssysteme überschreiben sich kontinuierlich selbst. Wissen erscheint mehr denn je als profaner Kontrakt des sozialen Zusammenlebens, veränderlich und temporär. Das Diktum der globalen Vernetzung scheint die Vorherrschaft gewonnen zu haben: Eine rasant sich wandelnde Kommunikationstechnik,  Titti-Entertainment nach Adorno und Fake-News erweisen sich als die Kinder der gegenwärtigen Zeit. Dem Gemüt gruselt es – das Desaster, ja gar die Katastrophe, wird zum alltäglichen Begleiter – und die Versicherung über das eigene Lebensmodell wird zur Notwendigkeit. Religion, staatsbürgerliche Werte – oder eben gerade die Kunst – müssen her, um der schlichten Seele wieder jene Seelenruhe und Kontrolle zu verschaffen, derer sie so dringend bedarf. Also Grund genug, sich an einem frühen Montag-Abend ins Kunsthaus in Hamburg zu begeben, um die nicht zu vollendende Sinnsuche weiter zu betreiben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.

Wer aber an diesem Abend seinen Weg gemeistert hat, der wird belohnt: Mit Nichts weniger konfrontiert, als mit der thematischen Ansage des Desasters, der Katastrophe und der Verhältnisse, die im Unsicheren liegen, lockt eine Ausschreibung. Zu gewinnen gibt es Originalzeichnungen der beiden Künstlerinnen Stilla Seis und Eva Zulauf mit dem Motiv des Elefanten. Na immerhin, denkt da das kunsthungrige Gemüt. Ansonsten: Kokettieren mit dem Abgrund und dem (möglichen) Scheitern − Nichts weniger scheinen die beiden Künstlerinnen Stilla Seis und Eva Zulauf zu versprechen, die sich im Rahmen eines öffentlichen Dialogs untereinander dem Publikum stellen.

Soviel scheint gewiss: Zu einem lebenswerten Leben, zu einer Kunst, die berühren und erreichen kann, gehört mithin eine Bereitschaft zum Humor und zur ironischen Brechung– dies wird von beiden Künstlerinnen sofort offenherzig als drohende Möglichkeit eingeräumt. Zu fragil, zu unvorhersehbar ist für beide der Prozess des künstlerischen Schaffens, um am Ende nicht eventuell als frustrierend und unvollendet zu erscheinen. Ein eleganter, rethorischer Griff, um auf das Wesentliche beider Künstlerinnen umso mehr hinzuweisen? Das wäre zu weit spekuliert, viel wichtiger erscheint den Aspekt der „Umwendung“, der mit Rückbezug auf die aristotelische Poesie eine gewichtige Rolle spielt. Aber wie begegnen wir dieser Vieldeutigkeit der Dinge, der Verfasstheiten in der Welt und dem ewiglich ausstehenden Resultat eigener Produktion? Dieser Mehrdeutigkeit unserer Sprache, unserer Bilder und der Art und Weise, in der wir für andere erscheinen?
Und dies ist der eigentliche Ansatz: Beide Künstlerinnen – Stilla Seis als auch Eva Zulauf – bedienen sich im Rahmen ihrer Kunst und innerhalb dieses Events im Kunsthaus der Ironie. Und „Ironie“ meint hier nicht mehr als dieses: Einen Weg zu ebnen − sprachlich oder künstlerisch – der die Mehrdeutigkeit unseres Sprechens und der kollektiven Bilder enthüllt.

Kommen wir kurz zurück auf eine wesentliche Attraktion des Abends – die Tombola: Es geht um die Zeichnungen beider Künstlerinnen – und das Motiv ein Elefanten. Stilla Seis und Eva Zulauf verteilen im Publikum Lose, die gleichzeitig die Textvorlage für eine kollektive Performance darstellen. Sinnsprüche, Epigramme, Statements stellen den Inhalt dieses Spiels dar, die es im Angesicht einer Filmdokumentation über die Arbeit beider Künstlerinnen zu reproduzieren gilt. In Gruppen werden während der Filmvorführung die Slogans und Texte gemeinsam nachgesprochen. Ein Angebot des Kollektivs? Kunst mit sakralem Sendebewusstsein? Was da Verinnerlichung, was da ironische Brechung im Rahmen eines Spieles ist, bleibt letztendlich dem geneigten Besucher dieses Abends überlassen.
Von dieser Mehrdeutigkeit ist dieser Abend, nicht nur für das Publikum, sondern sicherlich auch für beide Künstlerinnen, erfüllt.

Und wer sich der Mehrdeutigkeit der Dinge verschreibt, der sieht umso klarer jenes, was in der gewöhnlichen Aufmerksamkeit nicht offensichtlich ist: So ganz konkret in den skulpturalen Arbeiten von Eva Zulauf: Ihre skulpturalen Werkstücke scheinen einer gründlichen Suche zu entspringen. Gesucht wird nach Verbindungen – zu unterschiedlichsten Materialien- sowie zu unterschiedlichsten Bezügen. Sie, die sich selbst in einem bestimmten Kontext als „Sachensucherin“ bezeichnet hat, schafft z. B. mit Papier und Beton neue Verbindungen und Assoziationen. An diesem Abend ist sie vertreten mit Arbeiten, die die Offensichtlichkeit des kulturellen Kanons spiegeln: Aus geometrisch anmutenden Sockeln schrauben sich Formen hervor, die keiner normativen Ästhetik zu gehorchen scheinen: Es sind brüchige, im Fluss begriffene, organische Formen, die sich aus konischen Formen geradezu herausschrauben. Das Organische, das Unvorhergesehene, das Ungeformte und Anarchistische als Postulat einer modernen Bildhauerei? Das Desaster als Chance?

Und Stilla Seis verweist mit ihren Arbeiten auf den Bereich der Beobachtungen, der weit außerhalb der weit geebneten Bahnen der Aufmerksamkeit liegt: Scharf ausgeschnitten sind die Formen ihrer Skulpturen – als gelte es, mit aller Achtsamkeit diese Exponate dem gewöhnlichen Fassungsvermögen zu entreißen. Was hier, auf kleinsten, präzise isoliertem Format präsentiert wird, ist scheinbar organischer Herkunft. Aber zu konkret scheint diese Interpretation, zu sehr am Dinglichen, an der Stofflichkeit der Exponate selbst festgemacht. Was vorliegt, ist die wohlüberlegte Formsprache einer Künstlerin, die keine Furcht hat, neue Impulse zu geben, eine Ästhetik abseits der Normen zu entwickeln und mithin eventuell „different“ zu sein. Die Bedeutung dieser Plastiken schwebt über der Physis der Exponate. Und dem Betrachter ist es überlassen, wie tief er sich auf dieses Spiel der Formen und der Vieldeutigkeit einlässt.

Ein so fruchtbarer Dialog wie jener zwischen Stilla Seis und Eva Zulauf  kann durchaus Fragen offen lassen. So zum Beispiel: Was bedeutetet es , ein Kunstwerk  mit räumlicher Dimension in die Welt zu setzen?  Ist Bildhauerei an das Konkrete, mithin Dingliche, gebunden? Was ist der ‚Bedeutungsüberschuss’ der Arbeiten? Gibt es eine Bildhauerei, die sozial – ja, sogar sozialpolitisch ist? Kunst und Spiel – Unabwägbarkeit der Gewissheiten. Soviel ist sicher. Aber auch diese Gewissheit wird von den Strömungen der zukünftigen Kultur überschrieben werden.

Halten wir und an dem fest, was dieser Abend mit beiden Künstlerinnen versprochen hat: Nichts weniger als eine Tombola war dies. Denn in Zeiten der absoluten, medialen wie auch der künstlerischen Verunsicherung wächst die Suche nach Festigkeit und Bestand. Geboten wird im Rahmen der abendlichen Verlosung das Bildnis eines Elefanten. Ein genugsames, ein beständiges Tier, das fest auf seinen vier Beinen steht. Ah, da ist sie endlich, Beständigkeit und Sicherheit für das darbende Gemüt. Und das Tier ist genügsam. Es braucht nur Wasser, ein wenig Laub und Gemüse und eine liebevolle, fürsorgliche Hand. Welch eine Freiheit!

Andreas Kohlschmidt
zur Veröffentlichung auf eigene-zeit.de